„Das heutige Venedig ist ein riesiges Museum, wo man sich, einmal durch dessen unablässig quietschendes Einlass-Drehkreuz hindurch, in einer Herde von Mitgaffern wiederfindet.“
So schreibt es der amerikanisch-britische Schriftsteller Henry James in einem Essay zu Venedig [1]. Das war Ende des 19. Jahrhunderts. Die Passage erzählt teils von einem Venedig des Beliebigen, Flüchtigen, der Enge: „Du fühlst dich von allen Seiten blockiert und eingesperrt; dein Bedürfnis nach Raum bleibt unbefriedigt; du vermisst deine tägliche Bewegung.“ Und heute? Wer in der Hochsaison den berühmten Markusplatz in Venedig quert, der wird gefühlt erdrückt von Menschenmassen. Denn Touristenströme bahnen sich ihren Weg. Die Begleiterscheinungen mit Smartphone-Bildern allenthalben, Kitschläden, Plastikmüll und Lärm machen Venedig teils zu einem großen Freizeitpark. Für die versteckte Schönheit der Lagunenstadt bleibt keine Zeit. Geschätzte 30 Millionen Besucher statten dem rund 50.000 Einwohner zählenden historischen Zentrum Venedigs einen Besuch ab. Für viele Bewohner zu viel. So schreibt „Das Erste“ in einem Beitrag von 2018: „Die Alten sterben, die Jungen ziehen weg, weil sie die teuren Mieten nicht mehr bezahlen können. Die historischen Paläste werden zu Bed-and-Breakfast-Immobilien umfunktioniert.“ Und weiter: „Kein Gesetz verbietet den Kauf und die Umwandlung in Unterkünfte für Touristen. Die Preise entsprechen den zu erwarteten Renditen“ [2].
Bürger einbinden – teilhaben lassen
Nun sind die Probleme mit Massentourismus in Venedig kein Einzelfall. Ein Blick auf Spaniens Barcelona genügt. Dort sind die Versäumnisse einer verfehlten Tourismuspolitik heute deutlich spürbar. Den 1,6 Millionen Einwohnern stehen für das Jahr 2017 alleine über 8,8 Millionen Übernachtungsgäste in Hotels gegenüber. Die Millionen Besucher, die privat übernachten oder als Tagestouristen von Kreuzfahrtschiffen in die Stadt kommen, sind da noch nicht mitgerechnet. Das spült Geld in die Stadt, bringt aber auch jede Menge Herausforderungen mit sich. Im Geflecht aus Bewohnern und Massentourismus heißen diese knapper Wohnraum, Gentrifizierung, Lärm, Müll sowie Mobilitätsengpässe. Mit diesen negativen, urbanen Auswirkungen steht die Stadt Barcelona im globalen Vergleich nicht alleine. Und wie in vielen anderen Metropolen dieser Welt setzen die Stadtverantwortlichen auf technologische Errungenschaften der Smart-City-Industrie.
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Der Unterschied in Barcelona: Die Stadt sucht ihren eigenen digitalen Weg als demokratische Alternative. In Barcelona begegnen die Stadtverantwortlichen solchen Auswüchsen seit geraumer Zeit mit Verboten und neuen Konzepten zur Stadtentwicklung. Das zentrale Ziel ist ein besseres Gemeinwohl. In diesem Geist setzt Barcelonas Bürgermeisterin, Ada Colau, auf eine regulierte Hotelbranche sowie auf das Eindämmen illegaler Vermietungen von Apartments an Touristen. A. Colau: „Die Besucher möchten eine echte Stadt erleben. Eine Stadt, die freundlich zu ihren Einwohnern ist – mit niedrigen Mieten, mit Leben in den einzelnen Vierteln – und eine Stadt, die freundlich zu Gästen ist. Deshalb müssen wir zusehen, dass die Hotelbranche nicht weiterwächst – genauso wenig wie die illegale Vermietung von Wohnungen“ [3]. Dieser Grundgedanke des Gemeinwohls geht weit über die Wohnungs- und Übernachtungsfrage hinaus. Denn im Kontext digitaler Bestrebungen stellen sich die handelnden Personen Barcelonas die zentrale Frage: Wie können die Bürger der Stadt bei fundamentalen Veränderungsprozessen, die mit einer Smart-City-Strategie unweigerlich einhergehen, auch zukünftig eingebunden werden und an den wichtigen Themen teilhaben?
5G, Bürgerbeteiligung und digitales Lernzentrum
5G Barcelona ist eine von vielen digitalen Initiativen (Bild: stock.adobe.com_tanaonte)
Unter dem Dach der Plattform „Barcelona Digital City“ stehen die drei Kernbereiche: „Digital Transformation“, „Digital Innovation“ und „Digital Empowerment“. Im Kern geht es bei der Strategie darum, Investitionen in digitale öffentliche Infrastrukturen zu tätigen. Im Fokus stehen höherwertige öffentliche Dienste, die zu einer nachhaltigen und kollaborativeren Wirtschaft und Gesellschaft führen. Drei Beispiele:
- Die Regierung Kataloniens hat gemeinsam mit dem Stadtrat Barcelonas und weiteren Akteuren das Projekt 5G Barcelona ins Leben gerufen. Das Ziel ist es, Katalonien zu einem europäischen „5G-Digital-Hub“ auszubauen. Dabei geht es darum, Barcelona als Stadt- und Technologielabor zur Validierung von 5G-Technologien und -Dienstleistungen zu nutzen.
- Seit der Gründung im Februar 2016 hat die digitale Beteiligungsplattform Decidim Barcelona über 32.000 Neuanmeldungen und 190.000 Unterschriften erhalten. Im gleichen Zeitraum wurden über 9.000 Bürgeranträge angenommen. Nach Aussagen der Betreiber haben die Beteiligungsprozesse und Bürgerinitiativen zu über 1.300 persönlichen Treffen geführt, bei denen die Öffentlichkeit die verschiedenen Vorschläge diskutieren konnte.
- Das digitale Fertigungs- und Lernzentrum Parc Tecnològic verknüpft die Idee, Bürgern, dem Bildungsbereich sowie der Wirtschaft die Möglichkeit zu bieten, sich mit digitalen Technologien und der Produktion zu beschäftigen. Das Zentrum bietet Trainings, den Zugang und die Beratung rund um kollaboratives Design. Vor Ort befinden sich unter anderem 3D-Drucker und -Scanner sowie ein Team von Spezialisten, das sich auf digitale Fertigungstechnik spezialisiert hat.
Die Geister, die sie riefen
Zurück nach Venedig. Die Lage des historischen Zentrums in der Lagune macht das Autofahren unmöglich. Von daher setzen die Venezianer auf die Wasserstraßen als öffentliche Verkehrsinfrastruktur. Fortbewegungsmittel sind Motorboote und -schiffe sowie Fähren, die das Stadtzentrum miteinander verbinden und auch die umliegenden Gebiete Venedigs anlaufen. Alles wird per Boot transportiert – Menschen, Lebensmittel, Post und Pakete, Baumaterialien. Und auch der Abtransport menschlicher Hinterlassenschaften findet über das Wasser und die Müllschiffe statt. Im Grunde ein über Jahrhunderte gewachsenes System, das auf die Notwendigkeiten einer engen Lagunenlage des Zentrums ausgerichtet wurde. Gerade aufgrund des fehlenden Autoverkehrs herrscht in den weniger von Touristen frequentierten Bereichen der Lagunenstadt eine ungewöhnliche Stille. Was als Mikrokosmus in der Lagunenstadt eingespielt und notwendig ist, erlebt im Hafen Venedigs eine größere Dimension, mit irritierenden Folgen für Mensch und Natur. Die Rede ist von der Kreuzfahrtindustrie und ihren gigantischen Schiffen. Diese werden regelmäßig von Schleppern durch den Giudecca-Kanal am Markusplatz vorbei begleitet. An Bord stehen tausenden Touristen, aus den Lautsprechern der mehrstöckigen Ozeanriesen lärmen verkitschte Opernstücke. Absurd wirkt die Szene, die rein für das Amüsement der Kreuzfahrtpassagiere arrangiert wird. Denn die Schiffe könnten durchaus einen direkten Weg vom Hafen in das Adriatische Meer nehmen. Doch weit gefehlt. Und das trotz zahlreicher Unfälle in den letzten Jahren. So rammte ein Kreuzfahrtschiff diesen Sommer eine Anlegestelle und ein Touristenboot in Venedig. Anfang Juli 2019 entkam die Lagunenstadt nur knapp einem Umfall mit einem der Ozeanriesen. Wen wundert es, dass bei mehr als 600 Kreuzfahrtschiffen, die alleine 2018 vor Venedig ankerten, Unfälle vorprogrammiert sind. Die Zahl der Passagiere, die im gleichen Zeitraum an Land gingen, belief sich auf geschätzte 1,8 Millionen Touristen. Überhaupt boomt die Kreuzfahrtindustrie mit 28,5 Millionen Passagieren für 2018, Tendenz steigend.
Nun wollen die politisch Verantwortlichen gegensteuern und das historische Zentrum Venedigs für einige Kreuzfahrtschiffe sperren. Die Berliner Morgenpost zitiert hierzu Italiens Verkehrsminister Danilo Toninelli mit Bezug zu einem Bericht des Nachrichtensenders „CNN“: „Ab sofort werden wir die Zahl der an Giudecca und San Marco vorbeifahrenden Passagierschiffe verringern, insbesondere der größeren“. Und weiter heißt es: „Ziel sei, rund ein Drittel der Schiffe, auf deren Routen Venedig liegt, auf neue Wege zu führen, weiter entfernt vom historischen Zentrum“ [4]. Ob das indes fruchtet bleibt abzuwarten. Die Folgen für die Umwelt sind indes bereits heute spürbar. So lagen laut Spiegel die durch Kreuzfahrtschiffe verursachten Schwefeloxidemissionen in Venedig bei 27.520 Kilogramm im Jahr 2017 [5].
Bei der Kombination aus Massentourismus, Umweltbelastung und frustrierten Bewohnern bleibt nur festzuhalten: Die Geister, die sie riefen, werden die Hotspots der Kreuzfahrtindustrie – wie eben Venedig, aber auch Palma de Mallorca, Barcelona oder Piräus – so schnell nicht wieder los. Diese explosive Mischung fördert eine zunehmende Ablehnung und Radikalisierung der Bewohner, die einem rein auf Kommerz getrimmten Tourismus auf ihre Kosten den Kampf ansagen. Die Botschaften sind deutlich. Ob in Venedig mit dem vielerorts zu lesenden Slogan: „No Grandi Navi“ (Keine großen Schiffe) oder in Barcelona und dem „Tourist go home!“ oder „Barcelona no està en venda“ (Barcelona ist nicht zu verkaufen).
„No Grandi Navi“: Protest gegen die Kreuzfahrtindustrie in Venedig (Bild: Andreas Eicher)
Diese Signale des Widerstands gegen den „Overtourism“ sind an vielen Stellen in den touristischen Hochburgen zu lesen. Hintergrund ist ein sich seit Jahren verschärfender Konflikt zwischen den Bewohnern und einem ausufernden Massentourismus. Und das nicht nur im Schatten der Kreuzfahrtschiffe Venedigs, wo nach Henry James bereits Ende des 19. Jahrhunderts „grauenvolle Firmenschilder einige der großartigsten Ausblicke auf den Canal Grande“ verdarben [6].
Quellen:
[1] James, H.: Venedig, In Venedig: Begleitet von Hanns-Josef Ortheil (Handbibliothek Dieterich). Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung (2017), S. 87-134
[3] www.deutschlandfunkkultur.de/ende-des-wachstums-in-barcelona-tourist-go-home.979.de.html?dram:article_id=434975
[5] Deckstein, D.; Fichtner, U.; Hutt, F.; Müller, M. U.; Polonyi, M.: Balkonien auf hoher See. In: Der Spiegel (2019) Nr. 33, 10.08.2019, S. 44-53
[6] James, H.: Venedig, In Venedig: Begleitet von Hanns-Josef Ortheil (Handbibliothek Dieterich). Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung (2017), S. 87-134