Fünf vor zwölf, seit vielen Jahren

Andreas Eicher

Im Gasometer in Oberhausen ist aktuell eine Ausstellung zu sehen mit dem Namen: „Das zerbrechliche Paradies.“ Thema ist die Schönheit unserer Erde, aber auch die Verletzlichkeit selbiger. Dass die Ausstellung bis Ende November 2023 verlängert wurde, deutet zumindest auf das große Interesse am Thema hin. Ein Rundgang zeigt denn auch die Misere, in die wir Menschen uns selbst hineinmanövriert haben. Dort heißt auf einer Informationstafel zu „Hochsee-Bohrplattformen“: „Der Anblick lässt ambivalente Gefühle in uns aufkommen.“ Gemeint sind einerseits die Ingenieurskunst und anderseits die mögliche Gefahren, „die von den schwimmenden Inseln ausgeht“. Dementsprechend fordern laut Ausstellungsmacher „Umweltschützer seit Langem ein Ende der Förderung fossiler Brennstoffe aus dem Meer (…)“.

Für viele Politiker, Unternehmer und Medien ist es immer noch fünf vor zwölf in puncto Klimawandel. Bild: stock.adobe.com (goldbany)

Doch ein Ende des fossilen Energiezeitalters ist noch nicht wirklich in Sicht. Ein Blick auf die unsägliche Debatte zum Für und Wider des Verbrennermotors, des Greenwashing der Atomkraft und von Erdgas durch die Europäische Union oder das Verfeuern von Kohle, um den hiesigen Energiehunger zu stillen, sagt vieles aus. Nämlich, dass viele Politiker, Unternehmer und Medien den Klimawandel noch immer kleinreden. Für sie ist es immer noch fünf vor zwölf und das seit vielen Jahren. Damit würde die Zeit stillstehen, tut sie aber nicht. Denn der Klimawandel schreitet voran und mit ihm die Umweltschäden sowie der Raubbau am Ökosystem Erde.

Öl, Gas und Munition

Ein Beispiel ist die eingangs bereits angedeutete Meeresverschmutzung. Während Umweltschutzorganisationen seit Jahren vor den Gefahren durch Ölbohrungen in den Meeren warnen, sind nunmehr solche unter anderem in Alaska (USA) geplant. Und auch in der deutsch-niederländischen Grenzregion soll im Meer gebohrt werden. Dort im Wattenmeer geht es um Erdgas. Das Nachrichtenportal Zeit Online schreibt hierzu: „Das niederländische Öl- und Gasunternehmen One-Dyas hatte von der Regierung in Den Haag eine Lizenz erhalten, um nördlich der Wattenmeerinseln Borkum und Schiermonnikoog nach Erdgas zu bohren. Zur Vorbereitung will One-Dyas im Mai eine Bohrplattform in niederländischen Gewässern errichten.“ Nicht zu vergessen die eilig installierten Liquefied-Natural-Gas(LNG)-Terminals in Deutschland. Hierzu zählt unter anderem das bereits in Betrieb genommene Terminal in Wilhelmshaven.

Geplant ist zudem ein Terminal vor der Küste Rügens, vorangetrieben vom Energiekonzern RWE, was Anwohner und Umweltverbände ablehnen. Und so potenzieren sich die Gefahren für die Ost- und Nordsee um weitere Risikofaktoren, denn neben der Überfischung und dem allgegenwärtigen Mikroplastik kommt eine weitere Gefahr hinzu. Die lauert in Form von Munition und Bomben unter Wasser.

Hintergrund ist, dass im Zuge des Zweiten Weltkriegs enorme Mengen an Kriegsmaterial, Munition und Bomben in den Meeren versenkt wurden – quer über alle Ozeane. Beispiele dieser rücksichtslosen Entsorgung finden sich vor Australiens Küste, in Kanadas Gewässern und vor Hawaii (USA). Gleichfalls zählt die Nord- und Ostsee zu den Gebieten, in denen Munition und Kampfstoffe in großen Mengen liegen. Das Umweltbundesamt spricht mit Blick auf die Nord- und Ostsee von rund „1,6 Millionen Tonnen konventioneller Munition und 5.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe, die im Zweiten Weltkrieg durch Militäroperationen oder danach durch Verklappung versenkt wurden“. In diesem Zusammenhang heißt es auf den Seiten von „AmuCad.org“: „In der unmittelbaren Nachkriegszeit wählten die Alliierten die Verklappung auf See als Modus Operandi, um eine schnelle Demilitarisierung und Beseitigung von Kriegsmaterial aus deutschem Gebiet durchzuführen.“

Aus den Augen, aus dem Sinn

Die Tageszeitung „Die Welt“ umschreibt es hinsichtlich der Verklappung deutscher Wehrmachtsmunition durch die Alliierten am Ende des Zweiten Weltkriegs im Gebiet des Skagerrak (Nordsee) mit: „Aus den Augen, aus dem Sinn – das ist eine ebenso alte wie kurzsichtige Art, mit Problemen umzugehen.“ Und weiter: „Genau nach diesem Prinzip verfuhren in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Amerikaner und Briten mit Hunderttausenden Tonnen deutscher Munition: Sie versenkten sie auf dem Meeresgrund. Ein Dreivierteljahrhundert später zeigt sich, welche Folgen dieses Vorgehen hat.“ Eine Gefahr, nicht nur für die Meeresumwelt, sondern auch für den Schiffsverkehr, die Fischerei und die Menschen am Strand.

Munitionsaltlasten und ihre Gefahren, unter anderem für die Schifffahrt und Fischerei sowie das Ökosystem der Meere. Bild: Forsvarets forskingsinstitutt – the Norwegian Defence Research Establishment (FFI)

Laut des „World Ocean Review“ der gemeinnützigen Gesellschaft Maribus (Mare-Verlag) stellt rostende Munition „weltweit eine Bedrohung für Mensch und Meeresbewohner dar, denn sie birgt zweierlei Gefahren. Erstens können explosive Kampfmittel noch immer detonieren – beispielsweise, wenn Minen durch Grundnetzfischerei bewegt werden oder Bauarbeiten für Windparks beginnen, ohne dass der Meeresboden zuvor auf Altmunition untersucht wurde.“ Und weiter heißt es: „Die Verklappung im Meer galt bis in die 1960er-Jahre hinein als eine sichere und kostengünstige Verfahrensweise, Kampfmittel zu beseitigen. Aus diesem Grund entsorgten britische und US-amerikanische Streitkräfte in den Folgejahren auch eigene veraltete Weltkriegsmunition im Meer.“ Der Bericht 2021 des Berichterstatters über Munitionsaltlasten (Baltic Sea Parlament Conference – BSPC) kommt mit Blick auf den Ostseeraum und die dortigen Munitionsaltlasten zum Schluss: „Vergleichbare Belastungen sind weltweit in vielen Meeren, Küstengewässern, Flussmündungen, Hafenbereichen und Seen vorzufinden.“

Von Verfahren, Kartierungen und dem Bergen der Munition

Um die gefährlichen Militärhinterlassenschaften auf dem Grund der Meere aufzuspüren, wurden „in den zurückliegenden Jahren mehrere Verfahren zur Kartierung des Meeresbodens genutzt und verfeinert“, so die Publikation World Ocean Review. Und weiter heißt es: „Durch die Kombination von Fotoaufnahmen, Fächerecholot- und Magnetik-Kartierungen können die Wissenschaftler mittlerweile (…) hochauflösende Aufnahmen vom Meeresgrund erstellen, auf denen Minen, Waffenkisten oder Torpedos gut von Steinen oder anderen natürlichen Objekten zu unterscheiden sind“. Zudem gibt es laut dem Portal ähnliche Fortschritte bei der Entwicklung schneller Analysemethoden: „Mithilfe mobiler Massenspektrometer können die Wissenschaftler TNT und andere sprengstofftypische Verbindungen inzwischen im Meer detektieren.“ Für Wissenschaftler spielt die künstliche Intelligenz (KI) bei der Identifizierung von Munition eine wichtige Rolle.

Mareike Kampmeier, Deepsea Monitoring Group des Geomar Helmholtz Centre for Ocean Research Kiel, spricht in diesem Zusammenhang von der Automatisierung. „Grundlage dafür sind Trainingsdaten, die wir aus unseren Datensätzen erstellen. Das bedeutet, dass wir in den hochauflösenden Fotomosaiken Munition markieren und annotieren (mit Anmerkungen versehen, Anm. d. Red.). Jedes Objekt bekommt Attribute wie unter anderem Munitionstyp, Zustand und Versandung zugewiesen. Die Annotationen werden auf das geringer aufgelöste, dafür flächendeckendere Bathymetrie-Raster übertragen und mit den beiden Datensätzen wird dann ein neuronales Netz trainiert. Dies soll am Ende in der Lage sein, in Fächerecholotdaten Munition zu identifizieren“, erklärt M. Kampmeier.


Ein ausführliches Interview mit Mareike Kampmeier vom Geomar Helmholtz Centre for Ocean Research Kiel unter dem Titel: „Vom Monitoring der Munitionsaltlasten“ finden Interessenten in der gis.Business 2/2023.


Hinsichtlich der KI-Möglichkeiten schreibt das Unternehmen Orsted (EnergieWinde) in einer Reportage: „Das Kieler Unternehmen Egeos (neuer Firmenname: north.io, Anm. d. Red.) analysiert mithilfe von künstlicher Intelligenz historische Dokumente, um die Fundorte alter Munition in Nord- und Ostsee zu ermitteln. Das System hebt die Suche nach Kriegsaltlasten auf ein neues Level und legt den Grundstein für munitionsfreie Meere.“ Bleibt zu hoffen, dass wenigstens an dieser Stelle die Vernunft siegt und die Zeiger der Uhr sich weiterdrehen.