Wie viel Eis geht in vergletscherten Gebieten verloren? Was hat welchen Einfluss auf den Anstieg des Meeresspiegels? Wie verändert sich der globale Wasserkreislauf? Für die Antworten auf Fragen wie diese sind genaue Messdaten zu den Veränderungsprozessen im Zuge des Klimawandels essenziell. Diese liefern die beiden Satelliten der Mission Grace seit dem Jahr 2002. Das Institut für Erdmessung (IfE) der Leibniz Universität Hannover (LUH) erforscht das Messsystem der Grace-Satelliten und analysiert die Messdaten. „Unsere Gruppe erreicht inzwischen die deutschlandweit genauesten Ergebnisse bei den aufwändigen, aber wichtigen unteren Levels der Datenprozessierung und bringt diese Ergebnisse in internationale Kooperationen ein“, sagt Prof. Dr.-Ing. Jakob Flury vom IfE, dessen Team jetzt einen neuen Ansatz entwickelt hat, mit den Signalen von schnellen Umverteilungen von Massen umzugehen. Die Ergebnisse sind im amerikanischen „Journal of Geophysical Research“ veröffentlicht.
Vermessung des Klimawandels
Solche schnellen Umverteilungen von Massen erschweren die Verarbeitung der Daten vor allem dann, wenn ihre Dauer die Periode der Abtastung der Erde durch die beiden Satelliten unterschreitet. Das passiert beispielsweise häufig bei den Ozeangezeiten, die große Masseumverteilungen mit sich bringen. Die Gruppe des IfE hat innovative Verfahren entwickelt, um die kritischsten Ozeangezeiten-Komponenten in den Satellitendaten sichtbar zu machen. Diese Verfahren eröffnen die Perspektive, die Messungen von Grace für eine neuartige Modellierung der Ozeangezeiten und der damit einhergehenden Meeresspiegeländerungen zu nutzen.
Hintergrund der Forschung
Saisonale Schwankungen des Grundwasserspiegels, klimabedingter Eismassenverlust oder größere Erdbeben bewirken messbare Veränderungen der Erdanziehungskraft. Diese Veränderungen werden heute mithilfe von Satelliten erfasst. Der zugrundeliegende Gedanke: Da die Bewegung von Satelliten durch die Massenverteilung auf der Erde beeinflusst wird, kann man aus präzisen Positionsdaten der Satelliten Rückschlüsse auf die Massen ziehen. Dieses Prinzip wurde in der Satellitengravimetrie-Mission Grace (2002 bis 2017), die seit 2018 durch Grace Follow-On fortgeführt wird, weiterentwickelt. Diese Missionen bestehen aus jeweils zwei Satelliten, die die Erde in etwa 450 Kilometern Flughöhe mit einem Abstand von 220 Kilometern hintereinander umkreisen. Dabei sind nicht nur die Satellitenpositionen äußerst genau bekannt (dank der GPS-Technologie mit einer Präzision im Zentimeterbereich), sondern auch der Abstand zwischen den Satelliten. Dieser kann sogar mit einer Genauigkeit im Mikrometerbereich gemessen werden und ermöglicht es, den Zustand des Erdgravitationsfeldes mit einer räumlichen Auflösung von wenigen Hundert Kilometern und einer zeitlichen Auflösung von etwa einem Monat zu beobachten.
Störeffekte eliminieren
Doch die Bewegung der Satelliten wird nicht nur durch die Massen auf der Erde verursacht, sondern auch durch etliche Störeffekte. Um diese zu eliminieren, müssen sie mithilfe von Modellen aus den gemessenen Distanzdaten herausgerechnet werden. Zu diesen Effekten zählen beispielsweise die Anziehung der Satelliten durch andere Himmelskörper, Reibung der Satelliten mit der Atmosphäre, aber auch durch Mond und Sonne verursachte Gezeiteneffekte. Insbesondere Massenumverteilungen mit einer kürzeren Periode als die monatliche Auflösung der Erdgravitationsfeldprodukte müssen präzise modelliert werden. Modellfehler verschlechtern nicht nur die allgemeine Qualität der Erdgravitationsfeldprodukte, sondern können dazu führen, dass hochfrequente Störeffekte fälschlicherweise als langsame Massenveränderungen interpretiert werden.
Einen herausfordernden Effekt stellen die Ozeangezeiten dar. Um ein genaues Ozeangezeitenmodell zu bekommen, werden numerische Modelle mit Daten von Satelliten kombiniert, die die Meereshöhe abtasten. Diese Satelliten decken aber polare und subpolare Gebiete der Erde nicht ab, was zu Modellungenauigkeiten in diesen Regionen führt. Zudem weisen Ozeangezeitenmodelle in Küstennähe Schwächen auf, wo die Interaktionen der Gezeitenwellen mit den Küstenlinien komplex sind, und zudem die Abtastung der Meereshöhe zu grob ist.
Neue Ergebnisse
In einem alternativen Ansatz gelang es der Gruppe des Instituts für Erdmessung der LUH nun, zahlreiche der kritischen Ozeangezeitenfrequenzen direkt in den Satellitendistanzdaten von Grace und Grace Follow-On zu identifizieren und die dazugehörigen räumlichen Strukturen herauszuarbeiten. Neben den klassischen Frequenzen, die direkt durch die Gravitation von Mond und Sonne entstehen, lassen sich in den Daten auch noch wenig erforschte Ozeangezeitenfrequenzen erkennen. Hierzu zählen beispielsweise in Küstennähe entstehende nichtlineare Effekte, Gezeiten die durch periodische Auflasten der Atmosphäre verursacht werden sowie kleinere, durch den Mond verursachte asymmetrische Gezeitenanteile, für deren Beobachtung sehr lange Messreihen erforderlich sind.
„Einige der entdeckten Effekte wurden bislang noch nie in Satellitendaten beobachtet und bis jetzt in der Ozeangezeitenmodellierung völlig außer Acht gelassen. Die durchgeführte Studie unterstreicht somit das enorme Potenzial der beiden Satellitenmissionen für die Entwicklung neuer Ozeangezeitenmodelle“, sagt Igor Koch, Doktorand am IfE und Hauptautor der Studie, und betont: „Dies ist wiederum ein nötiger Schritt, um das aktuelle Fehlerbudget der Erdbeobachtungsdaten zu reduzieren und dadurch ein vollständigeres Verständnis über Massenumverteilungen auf der Erde zu erlangen.“
Weitere Informationen unter www.ife.uni-hannover.de