In einem Punkt scheinen sich viele Experten mit Blick auf London indes auch abseits des Fußballs einig zu sein: Die Digitalisierung der britischen Hauptstadt schreitet voran und auch Smart-City-Bestrebungen in der rund neun Millionen Einwohner zählenden Metropole nehmen nach deren Lesart Formen an. Nicht umsonst schneidet die britische Hauptstadt in zahllosen Smart-City-Vergleichen und Rankings gut ab. Doch was sagen solche Rankings überhaupt aus? „Das sind nette Ansätze, komplexe Themen in eine einfache ‚Schulnote‘ zu gießen. Doch liefern diese Ansätze aber eben nur ein Bild aus einer bestimmten Perspektive.“ Zu diesem ernüchternden Ergebnis kommt Frank Romeike, Risikomanagementexperte und Geschäftsführer von RiskNET. Und F. Romeike weiß, wovon er spricht, hat er doch von Berufswegen täglich mit Zahlen, Statistiken und Methoden zu tun. Entscheidend sei seiner Meinung nach, welche Kriterien in diese Städteratings einfließen. „Viele Kriterien, die aus Sicht der Bürger hochrelevant sind, fließen in die Ratings nicht ein“, erklärt F. Romeike.
Ein Interview mit Frank Romeike zu Kennzahlen, den Wunschbildern und warum Daten und deren Interpretationen im digitalen Zeitalter eine Schlüsselressource sind, lesen Sie in der kommenden Ausgabe 4/2021 der gis.Business.
Technologiezentriertheit und die Abhängigkeit der Städte
Hierzu passt der 54-seitige „Smart London Plan“. In diesem brachte es der ehemalige Londoner Bürgermeister, Alexander Boris de Pfeffel Johnson, besser bekannt als der jetzige Premierminister des Vereinigten Königreichs, schon vor Jahren auf den denkwürdigen Punkt: „Wir müssen die technischen Fähigkeiten Londons nutzen, damit die Hauptstadt als Stadt noch besser funktioniert.“ Nun, das heißt alles und nichts. Denn ob Technik wirklich immer hilft, damit eine Stadt besser funktioniert, das ist nicht ausgemacht. Diese sollte eingebettet sein in das Gesamtkonzept der jeweiligen Stadt, so es denn eines gibt.
Und auch in einem anderen Punkt scheint London auf gleicher Linie mit so vielen anderen Städten rund um den Globus – auf der Suche nach dem „smarten“ Fortschritt. Im Mittelpunkt stehen zu oft technische Aspekte. Das haben die Londoner Verantwortlichen zumindest auf dem virtuellen Papier erkannt und setzen auf mehr Zusammenarbeit und einen stadtweiten Ansatz. Das heißt auch, die Bedürfnisse der Bürger zu verstehen und mehr Dienste im Sinne der Menschen zu etablieren. Hilfreich sind solche Ansätze vor allem vor dem Hintergrund, dass eine Technologiezentriertheit zu einer stärkeren Abhängigkeit der Städte von großen Digitalkonzernen führen kann. Viele Städte laufen diesem Prozess hinterher, mit wenig Personal, fehlendem Wissen sowie teils undefinierten Zielen.
Wissenschaftswoche „Intelligente Stadt“
Klimaanpassung, Mobilität, Energieversorgung und Wohnraumknappheit gehören auch in deutschen Städten zu den kritischen Themen und großen Herausforderungen. Diese gilt es für die Zukunft zu lösen. Mit Blick auf diesen Themenkomplex veranstaltet die Hochschule für Technik Stuttgart (HFT Stuttgart) im September die Wissenschaftswoche „Intelligente Stadt“. Im Zentrum der Veranstaltungswoche von Dienstag, den 14.09., bis Freitag, den 17.09.21, an der HFT Stuttgart, steht die zentrale Frage: Wie lassen sich gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern die Städte intelligent, nachhaltig und zukunftsfähig entwickeln? Weitere Informationen unter https://www.hft-stuttgart.de/die-intelligente-stadt.
(Bild: HFT Stuttgart)
Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Faktoren
Dabei wäre zunächst eine Rückschau in den einzelnen Stadtverwaltungen wichtig, um zu verstehen, woher die Stadt historisch kommt. Nur so lassen sich wertvolle Rückschlüsse für zukünftige Entscheidungen treffen. Das betrifft nicht nur die baulichen Gegebenheiten einer Stadt, sondern auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Faktoren. Anders formuliert könnte es auch die Biografie einer Stadt heißen. Am Beispiel London bedeutet das unter anderem: Die Stadt liegt an der Themse und war stets einer der wichtigsten Handelsplätze Europas. Als Touristenmagnet beliebt, aber gleichzeitig eine Metropole, in der soziale Spannungen und Kontraste in der Gesellschaft vorherrschen. Der Tagesspiegel nannte London vor einigen Jahren einmal die „Hauptstadt der Milliardäre und der Zuwanderer“. Zumindest Letzteres wird sich aufgrund des Brexits wohl ändern. Und auf eine solche Gemengelage müssen die Verantwortlichen in den Rathäusern reagieren und weiche Faktoren der Stadtentwicklung stärker in den Denkprozess einbinden. Denn einer Stadt bringt es herzlich wenig, wenn tolle Mobilitätskonzepte aufgestellt werden, die am Ende keiner nutzt, weil die Notwendigkeit nicht erkannt wird oder schlicht das nötige Kleingeld im Portemonnaie fehlt. Und E-Scooter mögen auf der letzten Meile für Pendler auf ihrem Weg zur nächsten Bahnstation oder dem Arbeitsplatz attraktiv sein. Doch wer keinen Job hat, der muss vielfach keine letzte Meile zurücklegen. Gleiches gilt für Bürgerbeteiligungsplattformen. Wer in sozialen Brennpunkten lebt und von „seiner“ Stadt und damit der Politik wenig erwartet, dem sind E-Government-Prozesse nur schwer vermittelbar. Denn das Leben spielt sich in anderen Kategorien der täglichen Daseinsvorsorge ab. Solche Denkspiele ließen sich beliebig fortführen, zeigen aber, dass eine Gesamtbetrachtung im städtischen Kontext unabdingbar ist und mehr bedarf als digitaler Überlegungen und Wunschträume.
Wohin ein unüberlegtes Handeln von Städten und Planern führen kann, das umschreibt der Tagesspiegel mit Blick auf Londons Bauprojekte vor ein paar Jahren. In dem oben genannten Beitrag heißt es, dass die Londoner Skyline außer Kontrolle sei. So schrieb es „eine Gruppe von 70 prominenten Künstlern, Architekten, Wissenschaftlern und Philosophen im ‚Observer‘. Ohne Konsultation und Debatte sei eine ‚fundamentale Transformation der Stadt‘ im Gang. Zwar seien die meisten Wolkenkratzer Wohnbauten, aber ‚ihr eigentlicher Zweck ist, Investitionen zu schaffen, nicht harmonische Nachbarschaften‘.“ Ein Umstand, der in unseren vollen Städten zunehmend Unmut hervorruft. Denn bezahlbarer Wohnraum ist knapp, während Luxuswohnungen und aufwendig sanierte Altbauten teuer verkauft oder vermietet werden. Damit reiht sich London in die Riege vieler Metropolen ein – von Berlin über New York bis Sydney. Lösungen sind indes meist knapp oder verstecken sich hinter technischen Versprechungen.
Und diese Technologie darf nach F. Romeikes Ansicht nicht im Zentrum stehen. „Das soziale Miteinander und informelle Prozesse sollten das Herz einer Stadt ausmachen.“ Und er resümiert: „Menschen sind mehr als nur Konsumenten, die von den Tech-Konzernen als Objekte kommerzialisiert werden.“
Übrigens: Am Ende gewann Italien die Fußball-EM. Denkbar knapp und wie gehabt – im Elfmeterschießen. Während es nun wieder ruhiger wird auf Londons Straßen, feiern die Fans in Rom umso lauter. Apropos Rom. Auch in der italienischen Hauptstadt suchen die Menschen nach eigenen Wegen des Miteinanders. Darin sind die Römer geübt, seit über zweitausend Jahren. Gleichfalls abseits digitaler Pfade und inmitten der Stadt am Tiber mit ihrer ganz eigenen Biografie.