Andreas Eicher

Gestatten: Digital Twin

Sie breiten sich rasant aus, sind nicht nur in Städten vorzufinden und versprechen einen Blick auf das virtuelle Jetzt des realen Morgen. Gestatten: Digital Twin. Quer durch die Republik setzen immer mehr Städte und Kommunen, aber auch Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen und selbst der Kulturbetrieb auf die sogenannten digitalen Zwillinge. Stadtobere, Planer und Unternehmensentscheider versprechen sich von den digitalen Zwillingen eine bessere Entscheidungsgrundlage, um beispielsweise urbane Bauprojekte, neue Mobilitätslösungen oder die Automatisierung im Industriesektor mit einem digitalen Abbild der möglichen Realität zu versehen.

En vogue: Ein digitales Abbild vor dem Realen. Bild: Andreas Eicher

Dass der Mensch stets nach dem Neuen strebt, ist keine neue Erkenntnis. Seit Jahrtausenden suchen kluge Köpfe nach Wegen, wie sie sich die Erde untertan machen können. Ob Feuer, Rad, Dampfmaschine und die Telegrafie oder eben jetzt die Digitalisierung sowie die künstliche Intelligenz. Die Zeiten ändern sich und mit ihr nehmen die technischen Möglichen des Menschen exponentiell zu, mit unserem Planeten und den Ressourcen im ewigen Wachstumsglauben zu spielen. Das Ganze erinnert an das Hinauszögern einer kommenden Strafe – dem ökologischen Gau – mit einem vielfach rein technokratischen Ansatz, der die wirklichen Probleme unserer modernen Gesellschaften nur zu gerne überdeckt.

Städte und die digitale Spielwiese

Stadtverantwortliche, Politiker und die Wirtschaft vermitteln uns gerne das Bild, Herr vor der Lage hinsichtlich der urbanen Hausforderungen zu sein – gerade mithilfe digitaler Lösungen. Bestes Beispiel: Intelligente Lösungen für eine smarte Stadt. Damit einhergehen alle möglichen technischen Varianten, um das Stadtleben erträglicher zu machen. Denn Hitze, Verkehr und knappe Ressourcen nehmen zu.

Dem müssen Städte Rechnung tragen, wollen sie einerseits Städte lebenswert und attraktiv für die Menschen vor Ort halten. Anderseits stehen Städte auch im Wettbewerb zueinander, auch hinsichtlich neuer Wirtschaftsansiedlungen und damit in puncto Arbeitsplätze und dem Wohlstand in Summe. Ein zentrales Vehikel des Ganzen bieten nach Expertenmeinung digitale Zwillinge im städtischen Umfeld, mit deren Hilfe sich digitale Abbilder einer geplanten Umgebung erstellen lassen. Diese digitale Spielwiese fängt bei Straßen, Brücken und ganzer Quartiere an und hört bei geplanten Industrieanlagen noch nicht auf. Die zentrale Aussage könnte lauten: Wir haben alles im Griff, noch vor der Realisierung, auch dank neuer Prognosemöglichkeiten und Analysen. Dementsprechend gehen beispielsweise Hamburg oder München gerne voran, wenn es um das werbewirksame Vermitteln ihrer technischen Möglichkeiten geht, inklusive digitaler Zwillinge und sogenannter urbaner Datenplattformen. Die Botschaft dahinter soll ein Szenario aufzeigen, bei dem Städte das urbane Leben zentral lenken, darauf Einfluss nehmen und so mögliche Probleme frühzeitig beheben können.

Von der Realität und der Nachhaltigkeit

Die Realität sieht indes etwas anders aus. Denn auch digitale Vorzeigestädte, wie eben Hamburg oder München, haben es mit jeder Menge Herausforderungen zu tun. Angefangen bei nicht enden wollenden Staus über das Fehlen bezahlbaren Wohnraums bis zu immer mehr versiegelten Flächen und damit Hitzestress. Im Resultat begegnen Städte, Wissenschaft und Wirtschaft dem Dilemma urbaner und damit menschengemachten Risiken und Krisen mit einer wachsenden technologischen Ausstattung. Bestes Beispiel ist die zunehmende Sensorausstattung in allen möglichen Bereichen des öffentlichen Lebens, sind diese doch die Basis digitaler Lösungen – auch, um ein nachhaltiges Leben mittels Technologie zu fördern.

Im Unternehmensmagazin zu „Digital Twins“ spricht Esri Deutschland davon, dass eine nachhaltige Welt möglich ist. Nun müsste das Ganze eigentlich im Konjunktiv formuliert sein – das heißt, eine nachhaltige Welt möglich sei. Denn zu viel wurde in den letzten Jahrzehnten hinsichtlich einer nachhaltigen Entwicklung von politischer und wirtschaftlicher Seite versprochen und nicht gehalten: ökonomisch und ökologisch und damit auch sozial und gesamtgesellschaftlich. Überhaupt stellt sich die Frage: Was bedeutet Nachhaltigkeit? Das Wirtschaftsmagazin Brand eins überspitzt es wie folgt: „Es geht ihr nicht gut, der Nachhaltigkeit. Sie hat zu viele Freunde gefunden, auch falsche.“ Damit spricht Brand-eins-Chefredakteurin in ihrem Editorial „Denken auf Vorrat“ das aus, was viele Menschen beim Nachhaltigkeitsbegriff beschleichen dürfte, nämlich ein Unbehagen ob des teils inflationär und unscharf eingesetzten Begriffs. Brand eins hierzu: „Das Problem mit dem Begriff Nachhaltigkeit ist, dass ihn jeder toll findet. Was will man auch dagegen sagen? Nachhaltig kann schließlich sozial, ökologisch, engagiert, klimaneutral, fair, langfristig oder auch verantwortungsvoll meinen. Bei Nachhaltigkeit schwingt alles Mögliche mit – und nur Gutes.“ Von diesem vermeintlich Guten berichten immer mehr Städte. Denn deren Anliegen ist – wie könnte es anders sein – eine nachhaltige Stadtentwicklung voranzutreiben. Im Vorwort zum bereits erwähnten Esri-Magazin wird deren CEO, Jürgen Schomakers, zitiert mit den Worten der „Nachhaltigkeit durch Geoinformation“ und „Digital Twins: Die Zukunft der Stadtentwicklung und Infrastrukturplanung“. Ob und wie diese im Verbund von Geo-IT-Lösungen und der menschlichen Ratio gelingen kann, zeigt ein Querschnitt durch die Digital-Twin-Welt.

Digitale Zwillinge und deren Vernetzung

Der Digital Twin ist kein neuer Marker auf der Geo-IT-Landkarte. Seit Jahren wird der Begriff des digitalen Zwillings in der Branche und darüber hinaus gefördert und befeuert. Was mit der Anwendung im Industriesektor begann, hat mittlerweile auch die Stadtplanung und -entwicklung erreicht. Das bedeutet: Stadtverantwortliche, Architekten und Planer entdecken im Zuge ihrer Smart-City-Bemühungen die Vorteile des digitalen Zwillings. Dabei gibt es nicht den digitalen Zwilling, sondern das Begriffspaar müsste im Plural stehen. Eine Erklärung dafür lieferte Prof. Dr. Volker Coors, Prorektor Forschung und Digitalisierung der Hochschule für Technik (HFT) Stuttgart, im Rahmen eines Podcast mit gis.Radio schon im Jahr 2022 (Folge 17, „Digitale Zwillinge in der Forschung“, Anm. d. Red.). „Es gibt die verschiedenen digitalen Zwillinge“, unterstreicht Prof. Dr. V. Coors und meint: „Die sind zum einen Sektor-spezifisch. Das heißt, es gibt einen digitalen Zwilling mit Fokus auf die Mobilität, oder beispielsweise einen mit dem Fokus auf Energie.“ Aber darüber hinaus gäbe es nach seinen Worten die Möglichkeit, diese digitalen Zwillinge miteinander zu vernetzen, weil die verschiedenen Sektoren voneinander abhängig seien. Prof. Dr. V. Coors nennt als Beispiel den Gebäudesektor: „Wenn ich ein Quartier so plane, dass ich die Mobilität reduziere, bedingt das auch den Mobilitätsbereich.“ Von daher gehe es nach Ansicht des Wissenschaftlers vor allem darum, die unterschiedlichen Ausprägungen der digitalen Zwillinge miteinander zu vernetzen. Bleibt zu hoffen, dass die Verantwortlichen recht behalten und sich mittels des ganzen digitalen Tuns im urbanen Kontext die Probleme unserer Zeit lösen lassen. Zweifel bleiben zumindest bestehen, hat doch in der Menschheitsgeschichte immer mehr Technologie nicht zwingend zu einem besseren Leben geführt. Doch wenn dem in diesem Falle so ist, dann hat der Autor dieses Beitrags gerne Unrecht.