„Wo befinde ich mich?“ Diese Frage ist nicht nur in der See- und Luftfahrt von großer Bedeutung, sondern auch in Technologien wie dem autonomen Fahren, dem „Precision Farming“ in der Landwirtschaft oder im Bereich von Logistik- und Transportdienstleistungen entscheidend. Weiterhin sind Frühwarnsysteme für globale Naturkatastrophen sowie der Nachweis von Meeresspiegeländerungen als Folge des Klimawandels ohne Georeferenzierung undenkbar.
EU-Forschungsprojekt „Geometre“ für zuverlässige Längenmessung
Um präzisere Aussagen und fundierte Schlussfolgerungen über Umweltveränderungen globaler Tragweite treffen zu können, bedarf es in der Geodäsie – der Wissenschaft der Erdvermessung – neuer Messinstrumente und -techniken, die eine sehr geringe Messunsicherheit aufweisen. Im EU-Forschungsprojekt „Large-scale dimensional measurements for geodesy“ (Geometre) entwickelten Forschende der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) und weiterer europäischer Wissenschaftsinstitutionen feldtaugliche Systeme und Analysestrategien zur Verbesserung der Genauigkeit und Rückführbarkeit geodätischer Längenmessungen.
Das vom Forschungs- und Innovationsprogramm der Europäischen Union Horizon 2020 (18SIB01) geförderte Projekt verzeichnet schon Erfolge: Die neuen Messinstrumente und -techniken finden bereits international Anerkennung sowie Anwendung in Forschung und Praxis.
Das Geometre-Projekt sei international und interdisziplinär ausgerichtet gewesen: Von den 16 Forschungspartnern habe die eine Hälfte aus der Geodäsie und die andere Hälfte aus der Metrologie, genauer gesagt der industriellen Messtechnik gestammt, erklärt Prof. Dr.-Ing. Cornelia Eschelbach, Professorin für Vermessung und angewandte Geodäsie sowie Leiterin des Labors für Industrielle Messtechnik am Fachbereich Architektur, Bauingenieurwesen, Geomatik der Frankfurt UAS. Durch diese Zusammensetzung im Team habe sich eine einzigartige Symbiose für das Projekt ergeben: Die metrologischen Institute hätten hochpräzise Messinstrumente entwickelt. Die Geodäten hätten diese wiederum gewinnbringend einsetzen können, um die für die Erdvermessung wichtigen Produkte zu optimieren.
Local Ties: Messunsicherheit kleiner als ein Millimeter
Eines dieser fundamentalen Produkte der Erdvermessung ist der sogenannte internationale terrestrische Referenzrahmen, kurz ITRF. Er basiert auf Messungen von Raumtechniken, die über den gesamten Globus verteilt mithilfe von Satelliten oder Teleskopen Daten sammeln. Bei der ITRF-Realisierung werden die Ergebnisse der derzeit vier bestehenden Raumtechniken miteinander kombiniert, um ein übergeordnetes, erdfestes Koordinatensystem zu generieren und somit Bewegungen und Veränderungen der Erdkruste oder die Änderung des Meeresspiegels zu verfolgen. Der gegenwärtige Meeresspiegelanstieg beträgt etwa zwei bis drei Millimeter pro Jahr und erfordert zur Verifizierung einen globalen geodätischen Bezugsrahmen, der eine Positionsgenauigkeit von mindestens einem Millimeter besitzt. Der bisher genutzte ITRF ist mindestens um den Faktor fünf ungenauer und stellt somit einen limitierenden Aspekt bei der Beurteilung dar. „Die Kombination der verschiedenen Raumtechniken ist nicht trivial und erfordert zusätzliche verbindende Elemente, die „Local Ties“. Diese notwendigen Verbindungen zwischen den räumlich verteilten und unterschiedlichen Raumtechniken seien physisch zu schwach oder fehlten gänzlich, erläutert Dr.-Ing. Michael Lösler, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen des Projekts promovierte. Im Projekt entwickelten die Forschenden des Labors für Industrielle Messtechnik der Frankfurt UAS gemeinsam mit dem Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (BKG) und dem finnischen National Land Survey (NLS) neue Methoden, um diese Verbindungen zu stärken. An Multitechnikstationen, die mindestens zwei unterschiedliche Raumtechniken am selben Standort betreiben, können hochpräzise terrestrische Messungen erfolgen. Diese liefern wichtige geometrische Informationen zur Position der Raumtechniken und bilden die Basis zur Bestimmung der Local Ties.
In enger Kooperation mit der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) und der französischen Hochschule Conservatoire national des arts et métiers (CNAM) zeigte das Team der Frankfurt UAS in gemeinsam durchgeführten Messkampagnen am Geodätischen Observatorium in Wettzell, dass sich durch den Einsatz neu entwickelter Messsysteme ein Teil der Messunsicherheiten in Local Ties reduzieren lässt. Die im Zuge von Geometre gewonnenen Messergebnisse sind Teil der nächsten ITRF-Realisierung.
Distrimetre und Teleyag-II
Die Forschenden entwickelten im Projekt Geometre verschiedene Messsysteme, deren Längenmessungen unter anderem in die Bestimmung der Local Ties einflossen. Beim Distrimetre-System des CNAM handelt es sich um ein 3D-Messsystem zum Ermitteln von Positionen durch Präzisionsstreckenmessung. Das auf Radiofrequenzmodulation basierende System kann auch im Außenbereich unter kontrollierten meteorlogischen Bedingungen eine Messunsicherheit von deutlich unter einem Millimeter erreichen. Vergleichbare Messunsicherheiten erzielte auch das von der PTB neu konzipierte System Teleyag-II, das dank seiner Zwei-Farben-Lasertechnologie ohne zusätzliche Bestimmung der meteorologischen Umgebungsparameter auskommt. Im Zuge dieser Entwicklung stieß das PTB-Team auf einen Vorzeichenfehler im Dispersionsmodell von Ciddor und Hill, das zur Kompensation meteorologischer Einflüsse verwendet wird. Es handelt sich dabei um die Standardkorrekturformel für Distanzmessungen, die in der Längenmesstechnik seit 20 Jahren zur Berechnung der Ausbreitungsgeschwindigkeit in der Luft genutzt wird. Unkorrigiert verursacht das falsche Vorzeichen eine Abweichung von zwei Millimetern auf einer Strecke von einem Kilometer. Auf der diesjährigen Generalversammlung der International Union for Geodesy and Geophysics (IUGG) in Berlin wird eine neue Resolution der International Association of Geodesy (IAG) auf diesen Fehler hinweisen.
Euro5000 und Arpent-System
Das polnische Forschungsteam von der Technischen Universität Warschau etablierte im Zuge von Geometre „Euro5000“ – eine neue Referenzbasislinie, mit dem vorhandene und zukünftige geodätische Messinstrumente geprüft und kalibriert werden können. Bildlich gesprochen: Geometre hat das Urmeter auf einer Länge von fünf Kilometern realisiert und hierbei eine Messunsicherheit von unter einem Millimeter erreicht. Jedes Instrument, das nun auf dieser Basislinie Längenmessungen durchführt, kann auf das SI-Meter (Basiseinheit der Länge im Internationalen Einheitensystem) rückgeführt werden. Das können Messungen des globalen Navigationssatellitensystems (GNSS), wie beispielsweise das amerikanische GPS oder das europäische Galileo, aber auch Messungen mit Totalstationen sein. Die Bestimmung der Länge der Referenzbasislinie Euro5000 erfolgte unter anderem mit dem im Projekt entwickelten Arpent-System, für das die Forschenden des CNAM die auftretenden Unsicherheiten im Messprozess spezifizierten und quantifizierten. Das Messinstrument Arpent ist wie das Teleyag-II ein Zwei-Farben-Lasermesssystem, wodurch meteorologische Einflüsse intrinsisch korrigiert werden. Hierdurch konnten für die Distanzmessungen Standardmessunsicherheiten von 55 Mikrometern bis 0,65 Millimetern auf der Euro5000 erreicht werden. Zum Vergleich: Ein handelsüblicher Zollstock erreicht eine Genauigkeit von etwa einem Millimeter auf einer Länge von gerade einmal zwei Metern. Fallstudien am renommierten Referenznetz der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) und am geodätischen Observatorium in Grasse/Frankreich verifizierten diese neuen Methoden zur Durchführung hochpräziser Distanzmessungen.
Die neu gewonnenen Systeme und Verfahren eröffnen neue Möglichkeiten für präzise und rückführbare Messungen und erweitern das Anwendungsspektrum in der Geodäsie und Messtechnik für viele weitere Bereiche, beispielsweise für die Automobil-, Luft- und Windenergieindustrie. Eine höhere Zuverlässigkeit von Referenznetzen und Messinstrumenten ermöglicht eine effektivere Überwachung von Kritischen Infrastrukturen, wie künftigen nuklearen Abfallentsorgungs- oder Kohlenstoffsenken sowie von Bauprojekten wie Brücken, Staudämmen, Tunneln und Straßen. Wichtig ist, dass eine geringere Unsicherheit in den geodätischen Überwachungsdaten der Wissenschaft ermöglicht, zuverlässigere Schlussfolgerungen zu ziehen und schnellere Vorhersagen zu treffen, wie etwa über die tatsächliche Geschwindigkeit des Gletscherrückgangs in Grönland oder den Anstieg des globalen Meeresspiegels. Das Projekt leistet somit einen kleinen, aber wertvollen Beitrag zu einem besseren Verständnis von Umweltveränderungen globaler Tragweite.
Weitere Informationen unter www.frankfurt-university.de